Stubenfliegen

Laut Max haben sie eine Kurzzeit-Gedächtnisleistung von zwei Sekunden. Klingt prima. Andererseits natürlich blöd, wenn man deshalb – wie unsere Stubenfliegen hier im Haus – die ganze Nacht über ein ums andere Mal gegen die Scheibe fliegt, sofort wieder vergisst, dass das nichts bringt, und am Morgen völlig entkräftet und im schlechtesten Fall sogar tot auf dem Boden vor dem Fenster liegt.

In anderen Situationen kann ein derart extrem schlechtes Gedächtnis natürlich auch hilfreich sein. Zum Beispiel beim „Grand Depart“ der am Samstag startenden Tour de France. Armstrong? Wer?!? Heute gab es die Teamvorstellung auf Eurosport. Schrecklichstes Bild des Tages: Jerôme Pineau zwischen den ganzen Quickstep-Spacken.

Als Stubenfliege hätte ich natürlich bereits längst vergessen, dass ich ihn im Bouygues-Telecom-Trikot ziemlich toll fand. Und ich hätte gedacht: „Iiiihhhh! Quickstep!“ Obwohl… Wahrscheinlich hätte ich auch nur gedacht: „Trikot. Hell. Nix wie hin und ca. 65748389mal dagegen fliegen!“

Hätte ich ein Stubenfliegen-Gedächtnis, würde ich vielleicht auch heute noch begeistert drei Wochen im Juli vor dem Fernseher verbringen, den Anrufbeantworter immer noch mit einem „Sind Sie komplett wahnsinnig?! Es ist Tour-de-France-Zeit! Rufen Sie gefälligst nach dem 21. Juli wieder an!!!“-Spruch besprechen und sofort nach der Arbeit die Rollläden herunterlassen und den Fenseher anwerfen. Blöderweise habe ich kein Stubenfliegen-Gedöchtnis. Deshalb sieht meine Sicht auf die bevorstehenden drei Wochen im Juli eher so aus: „Oh… Tour de France… Toll… Jetzt verschandeln wieder drei Wochen lang diese verlogenen Deppen traumhafte französische Landschaften. Wie schön könnte doch die Tour-Übertragung sein, wenn nur diese dummen Radprofis nicht wären…“


Und die Eurosport-Kommentatoren natürlich. Als Stubenfliege hätte ich angenehmerweise den verbalen Brechdurchfall eines Karsten Migels noch vor dem Satzende wieder vergessen. Klasse! Und Ulli Janschs präpubertäre Witze wären vielleicht wirklich witzig, weil man sich im Augenblick der Pointe nicht mehr an das stundenlange, ermüdende und äußerst unlustige Vorgeplänkel erinnern könnte. So jedoch werde ich wohl – natürlich aus rein touristischen Gründen – die ein oder andere Etappe anschauen und dabei auf die gute, alte „Waaaah! Migels! Waaah! Jansch! Ton aus!!!“-Methode zurückgreifen müssen.

Wahrscheinlich hätte ich mit Stubenfliegen-Gedächtnis auch vergessen, dass ich momentan echt fertig bin. Und müde. Und geschafft. Und ich hätte wahrscheinlich heute abend tatsächlich wie geplant das Ankleideregal aufgebaut und bestückt. Weil ich mich ja nicht mehr hätte daran erinnern können, dass ich dazu zu müde bin. Ich hätte wahrscheinlich so lange Ikea-„Ivar“-Teile zusammengesteckt, bis ich tot vor dem Regal gelegen hätte. Aber das Regal hätte immerhin da gestanden, wo es jetzt eigentlich stehen sollte. Tut es so natürlich nicht. Weil ich keine Stubenfliege bin. Und echt fertig. Und müde. Und total geschafft. Und vergessen habe, wie nervig es ist, allmorgendlich im Dunkeln in Kartons nach einem tragbaren Outfit für den Tag zu suchen.

So – mit Gedächtnis – bleibt mir nur, die Tage bis zum Urlaub zu zählen. Heute sind es noch sechs Arbeitstage bzw. zehn Kalendertage. Und bis dahin werde ich mich ab jetzt nur aufs Überleben konzentrieren. Und darauf, an den verbliebenen sechs Tagen pünktlich und in einem halbwegs menschenwürdigen Zustand im Büro aufzutauchen. Am Wochenende wird geräumt. Und am Montag wird der Mainzer Keller geleert. Und ansonsten wird die freie Zeit auf so profane Dinge wie atmen, schlafen und nicht-tot-vor-der-Scheibe-liegen verwendet.
„Vive le Tour!“ Ähhhh… Wer nochmal?!